Der Schnee knirscht unter den Füßen wie unsere Zähne vor Anstrengung, als jeder mit gefühlten dreißig Kilogramm Gepäck die steile Piste erklimmt. Das genannte Gepäck verteilt sich dabei an Händen, Füßen, Rücken und Bauch – keinem befestigungstauglichen Körperteil bleiben die Strapazen erspart. Blickt man also in schmerzerfüllte, klagende Gesichter? Mitnichten! Es wird gelacht, es werden Schneebälle geballt und dann doch faul verworfen, die Luft vibriert von der Freude, die uns allen ins Gesicht geschrieben steht. Endlich wieder Hüttenzeit! Die Erstankömmlinge, zu denen ich mich zählen darf, tragen die höchste Verantwortung: Die Wasserkanister in die kleine Holzhütte zu schaffen. Vom Krispler „Stadt“zentrum, wo wir unsere Autos problem- und kostenlos wochenlang parken könnten, geht es nur bergauf. Eine kaum merkliche Steigung zunächst, die sich innerhalb kürzester Zeit zu einer Bergbesteigung wandelt. Nicht selten fallen Vergleiche mit Sherpas auf dem Weg an die Spitze des Mount Everest; wir sind uns einig, dass diese Sherpas sicher eine bessere Kondition hätten als wir. Es wird also aufgesattelt, die starken Bären unter den Burschen (das sind alle, wenn man nachfragt) greifen sich je einen Zehn-Liter-Kanister in jede Hand und der Aufstieg beginnt. Ich freue mich, dass ich eine Rodel mithabe, auf die ich mein Gepäck geschickt schnalle. Dort schwingt es dann den Rest des Weges mit zerstörerischer Naturgewalt unkontrolliert nach links und rechts, aber es gibt für mich kein Zurück mehr.
Der Schnee liegt hoch im Jänner des Jahres 2015; eine Freude für das Auge und die Skifahrer, die uns mitleidige Blicke schenken. Keine Freude für die Menschenbeinchen, die bei jedem Schritt drei Meter tief in den Boden sinken. Trotzdem wird weiter fröhlich pfeifend marschiert, und nach einer guten halben Stunde ist unser sämtliches Hab und Gut in der idyllischen Herberge angelangt. Kaum dreißig Meter vom Ende der Skipiste und doch mitten im Wald, so liegt unsere geliebte Wandervogelhütte. Fast gänzlich aus Holz und hygienisch getrennt von den Toilettenanlagen, so präsentiert sich das Häuschen; bedeckt und ummantelt von frischem Pulverschnee. Ein herzerwärmender Anblick. Auch beim betreten der Hütte bleiben die Herzen warm; der Rest des Körpers muss auf das langsam lauter werdende Gurren des Kachelofens hoffen. Aber die Schuhe bleiben nicht lange an den Füßen, denn der gute alte Kachelofen fährt hoch wie eine Lokomotive und knisternd füllt sich der Raum mit wohlig heißer Luft.
Das Gepäck ist schon in das herrliche sogenannte „Matratzenlager“ im Oberstock verfrachtet worden; die Platzzuteilung ist schnell gemacht. Die Schnarcher zu den Schnarchern, die Kuschler zu den Kuschlern und die nächtlichen Entertainer zum besten Publikum. Und die Hübsche zu den Schnarchern damit sie vor möglichen nächtlichen Banditen gefeit ist. Der Raum, gerade noch so kahl und dementsprechend ordentlich, ist bald ein herrlicher Haufen Schlafsäcke. Taschenlampen, Jogginghosen und Wollpullover breiten sich aus, soweit das Auge reicht. Brav den Hüttenregeln folgend, sind bei uns alle Arten von Häferln, sowie auch Kerzen, strikt im Obergeschoss verboten. Dies macht allerdings den besonderen nächtlichen Grusel für alle jene aus, die ihre Taschenlampen vergessen haben. Ganz dunkel sind die Nächte im Jänner 2015 gottseidank nicht; der Schnee ist viel zu hell für vollkommene Finsternis. Und Schnee, davon haben wir reichlich. Beim Zurückdenken werden wir uns vage an tägliche Schneestürme erinnern.
Nachdem die Erstankömmlinge sich fleißig eingenistet haben und vom Zivilisationsgewand in ein Almöhi-Outfit geschlüpft sind, kann das Kochen beginnen. Heimelige Hausschlapfen-Geräusche mischen sich unter den Duft von Hühnchen-Zucchini-Reis und langsam kehrt die Ruhe ein. Die Herzen klopfen einen alten Rhythmus; die Uhren an den Smartphones landen in dunklen, nichtbeachteten Ecken. Die Gedanken sind freier und der Zusammenhalt ist grösser in dieser Wildnis. Wildnis natürlich aus Sicht der Stadtbevölkerung, aus der wir uns zusammensetzen. Die Tage haben jetzt einen anderen Ablauf und andere Wichtigkeiten. Der entscheidenste Punkt im Tagesablauf ist zweifellos: Das Essen. Um diesen Lebenszweck heiterer zu gestalten gibt es in diesem Jahr einen Kochwettbewerb; nicht jedoch am ersten Tag. So wird das Zucchini-Hühnchen ganz urteilsfrei und gnädig verspeist, und die Nacht ist längst über uns hereingebrochen.
Mit der Nacht kommen die Spiele. Und die Schauergeschichten. Nach wiederholten Beschwerden seitens der Hütten-Angsthasen hören die Entertainer auf, Gruselgeschichten zu erzählen. Somit ist dies eines der seltenen und glückseligen Hüttenjahre, in dem auch Einzelpersonen das Plumpsklo nachts aufsuchen können, ohne in Panik zu geraten. Der Weg von der Tür zum kleinen Holzhüttchen wird im Schritttempo zurückgelegt; die Schatten im Wald sind heuer nur Schatten im Wald, keine sportlichen Freizeit-Mörder, die gerne eine kleine Nachtwanderung mit Hüttenmassakern kombinieren wollen. Die Schatten sind heuer auch keine Wölfe oder Ausgeburten unaussprechlicher, unbekannter Höllen. Die Knacksgeräusche aus dem Dunklen sind in diesem Jahr keine Schritte, sondern die Bewegungen alter Holzbrettern und Ästchen. Das Jahr 2015 ist ein friedliches Jahr auf dieser Hütte. Niemand liegt nachts wach und führt einen inneren Kampf seiner vollen Blase gegen die Angst vor dem Toilettengang. Unsere Nieren atmen dankend auf. Also bleiben nur die Spiele. In der ersten Nacht fällt die Wahl leicht: Das Spiel heißt „früh ins Bett gehen weil alle noch von diversen Silvesterfesten müde sind“.
Der nächste Morgen beginnt wie immer: Kalt. Natürlich nur für denjenigen, der sich erbarmt als Erster in die Stube zu gehen und den Kachelofen anzuheizen. Die anderen können sich weiter in ihre Schlafsäcke rollen wie riesige menschliche Palatschinken und in süßen Träumen schwelgen, bis das unhöflich laute Gelächter der Frühaufsteher sie weckt. „Unhöflich“ ist dabei ein sehr relativer Term, ebenso wie“ Frühaufsteher“. Denn „früh wach“ ist man bei uns etwa um 10 Uhr vormittags. So müde war man dann nämlich nachts doch nicht; jedenfalls nicht zu müde, um nicht stundenlang mehr oder minder tiefsinnige Gespräche über Körperfunktionen, das Weltgeschehen und die brodelnde Gerüchteküche zu führen. Und wenn diese Gespräche fürs Wachhalten nicht gereicht hätten, so wäre noch das ewige Schnarchen geblieben. Ein garantiertes Schlafmittel, das seine Wirkung erst mitten am nächsten Tag entfaltet.
Der Morgen beginnt also immer schön verschlafen, der erste Weg führt üblicherweise zu Nutellabrot und Tee. Diese Nutellabrote sind ein vergänglicher Genuss; quasi eine Metapher des Lebens, wenn man so will. Man muss das Nutella genießen solange es währt, und es währt üblicherweise sehr kurz. Enorme bärtige Männer brauchen eben mehr Nutella als Brot zur Stärkung ihrer Holzhacker-Arme, dies ist allgemein bekannt. Danach folgen ausführliche Diskussionen zu den Abwasch-Verpflichtungen; während jedem Hüttenaufenthalt muss man mit multiplen zerbrochenen Freundschaften rechnen im Zuge dieser hitzigen Wortgefechte. Nicht selten bricht dabei dieselbe Freundschaft innerhalb weniger Stunden mehrfach. Aber auch hier findet sich dieses Jahr eine elegante Lösung: Die Köche des Tages sind die Abwäscher des Tages. Besonders tragisch ist diese Regelung für jene Köche, deren Rezept Tomatensoße beinhält. Ein wahrlich tückisches Lebensmittel. Danach sind wir zur Stelle, um die Zweitankömmlinge und deren Gepäck aus Krispl hoch zu begleiten. Wieder bin ich höchst zufrieden mit meiner Rodel, die uns quer über die Skipiste an unverständlich brüllenden Skifahrern vorbei hinunter ins Dorf bringt. Weil Krispl auf zwanzig Hügeln gebaut ist, ist der Weg vom Ende der Piste zum Parkplatz eine erneute Odyssee. Das könnte auch nur meine subjektive Meinung sein, da Rodeln ohne Skihose zu einer sehr nasskalten Hose führt und diese nicht nur die Unterhose, sondern auch die Stimmung senkt. Unsere Nachzügler sind nur leicht bepackt; zu unser aller Freude, und so sind wir auch bald wieder im trauten Urlaubsheim. Der ideal und großzügig aufgeteilte Schlafraum ist in Kürze überbelegt, was von allen freudig angenommen wird. Mehr körperwarme Nächte einerseits, mehr körperlich warme Nähe andererseits. Die Hübsche ist froh über ihren schnarchenden Schutzwall. Die anderen wiederum sind froh, dass so ein Schnarchwall leicht überrollt werden kann. Jetzt kann die Hütte richtig beginnen.
Und so legen wir uns den Rest des Tages in den Schlafraum und es werden Gespräche geführt, die das ganze Jahr über aufgeschoben werden. Tiefe Emotionen lösen sich. Tief vergrabene, furchtbare Witze lösen sich ebenso. Tiefschläge werden ausgeteilt. Bis tief in die Nacht. Gelegentliche Unterbrechungen bieten Pokerspiele; gepokert wird selbstverständlich um Geld. Wie auch in der Weltwirtschaft werden enorme virtuelle Geldsummen gesetzt, die zu enormen virtuellen Schulden führen. Schuldsummen von bis zu vier virtuellen Euro sind keine Seltenheit. Ein gewisser Tobias Schörghofer steht unter Verdacht, ausgesprochen trickreich betrogen zu haben; dies erschließt sich aus seiner Gewinnwahrscheinlichkeit von über 80%. Es konnte ihm bis dato nichts nachgewiesen werden. Auch andere Mitspieler versuchen sich an Kartenmanipulationen. Ein Aufschrei geht durch die Spielerschaft; Prügeleien können nur knapp verhindert werden. Die Moral von der Geschicht: Pokern nur zu können, reicht beim Spielen nicht. Das Spiel wird auch den Rest der Hütte strikt umgangen und durch harmlose, den Teamgeist fördernde spiele wie „Zug um Zug“ ersetzt. Tragischer weise werden auch dadurch wutentbrannte Wortkämpfe ausgelöst. Dies führt zu einem generellen Spieleverbot, welches sofort großzügig vernachlässigt wird.
Besonders schön ist unser „Cthulu“-Abend (Ist es der zweite oder dritte Tag? Auch die Kalender haben wir alle in den Kachelofen geworfen). Unser höchst talentiertes Spieleentwicklungs-Team hat sich bereits Wochen zuvor mit einer interaktiven Geschichte auseinandergesetzt, die es nun gemeinsam zu durchleben gilt. An sich schon ein langwährendes Unterfangen, das die halbe Nacht in Anspruch nimmt. Sehr zu unser aller Vergnügen, selbstverständlich. Doch der eigentliche Aufwand einer solchen rollenspielartigen Erzählung liegt in den Figuren. Jeder Teilnehmer muss sich nicht nur einen Charakter überlegen, er muss auch jede Charaktereigenschaft hochoffiziell und unter Aufsicht auswürfeln, um keinen unrechtmäßigen Vorteil vorschützen zu können. nachdem alle Charaktere ausgewürfelt und designt sind – einige mit Glück, andere mit tragischen geistigen und/oder körperlichen Defiziten geschlagen – werden alle Kerzen bis auf zwei ausgepustet und der Grusel kann beginnen. Da dies mein erstes „Cthulu“-Spiel ist, bin ich höchst entzückt und aufgeregt wie ein Kind am Weihnachtsmorgen. Während sich alle aktiv beteiligen und wir gemeinsam versuchen herauszufinden, was sich am mysteriösen Schauplatz des Geschehens wirklich ereignet hat, nimmt der Lautstärkepegel der Diskussionen langsam, aber stetig zu. Erst nachdem die meisten vom Schreien etwas heiser geworden sind, kehrt wieder mehr Ruhe ein. Nach Stunden der steigenden Spannung und der Stück für Stück ausgehenden Kerzen gelingt es uns endlich, das Rätsel zu lösen. Und das sogar mit nur wenigen menschlichen Verlusten, dafür umso mehr Verlusten an den Stimmbändern. Völlig erschöpft von dem emotionalen Einsatz und der unwillkürlichen Identifikation mit unseren in Todesgefahr schwebenden Spielfiguren, fallen wir alle der Reihe nach ins Bett. Glücklicherweise ist kaum jemand mit Alpträumen geschlagen, was an der beruhigenden allabendlichen Einschaltung von „Radio Shaky“ liegen mag. Dieser aufstrebende junge Radiosender beglückt uns mit Live-Darbietungen von allseits beliebten und bekannten Hits wie „Don’t break my heart, my achy breaky heart“, unterbrochen nur von gelegentlichen, etwas lauteren Werbeeinschaltungen. Die Sendung findet jedoch einen jähen Abbruch, nachdem der großartige Moderator Schörghofer von derzeit noch unbekannten Tätern überwältigt und in seinen Schlafsack gestopft wird.
Am nächsten Tag steht unsere alljährliche Schneewanderung auf dem Programm. Bei denjenigen, bei denen die Wanderung nicht am Programm steht, wird durch Drohungen von Abwaschverpflichtungen über Holzhacken etwas nachgeholfen. So stehen am frühen Nachmittag alle Hüttenbewohner bereit; ausgerüstet wie zu einer Südpolexpedition, fühlen wir uns den Naturgewalten einigermaßen überlegen, und starten sogleich eine wilde Schneeballschlacht. Dann geht es in sportlichem Tempo bergauf, mitten in den von unberührtem Schnee eingehüllten Wald. Bald reduziert sich das Tempo, nicht jedoch die Euphorie. Wer nicht auf der Hut ist, wird Opfer von Schneebällen mitten aus dem Dickicht des Waldes. Die Herkunft dieser geheimnisvollen Schneegeschosse liegt derzeit noch im Dunklen. Wir erreichen bald eine Waldlichtung, die wir nicht so schnell vergessen werden, da sich Tragisches dort ereignet. Es finden sich dort auf einer kleinen Erhöhung stehend zwei gut bekletterbare Bäume. Ein Mitglied unserer achtbaren Vereinigung ist bekannt für sein sportliches Talent in Kombination mit völligem Irrsinn und offensichtlicher Achilles-artiger Unverletzlichkeit. Dieser Zeitgenosse beschließt also, die Gelegenheit einer Klettertour zu nutzen. In Windeseile ist er in bedenkliche Höhen geklettert, und da sich der Haufen Tiefschnee vor ihm als weich und federnd anbietet, ist er mit einem katzengleichen Hüpfer auch rasch wieder am Boden. Dies wiederholt er einige Male, bis sich eine Klettergenossin gefunden zu haben scheint; mit dem festen Entschluss, auch ein bisschen Irrsinn zu zeigen, klettert sie nicht minder rasch in gefährliche Höhe. Dort angelangt, ist keiner mehr überzeugt, dass ein Sprung der richtige Abstieg in diesem Falle ist. Nur der ursprüngliche Kletterpionier feuert seine Kletterkumpanin an, die in einen innerlichen Kampf ihres sportlichen Mutes gegen ihre vernünftige Angst verstrickt ist. Nun denn, der Mut siegt, und mit überraschter Begeisterung sehen wir sie alle durch die Luft gleiten. Die Landung allerdings ist nicht so federnd wie erhofft, und mit wachsender Beunruhigung sehen wir die mutige Springerin verdächtig erblassen. Nach stundenlanger Verleugnung auf Seiten der Verletzten gesteht man sich doch ein, dass hier ein Krankentransport vonnöten sein wird. Da das Opfer der Schwerkraft glücklicherweise von eher feinem und leichtem Körperbau ist, sind sogleich eine Handvoll der kräftigeren Männer zur Stelle. So wird sie wechselnd Huckepack getragen zur Hütte befördert. Wir alle versuchen sie zu einem Besuch im Krankenhaus zu überreden, vor allem da der Betroffene Knöchel inzwischen eine bunte Palette besorgniserregender Farben angenommen hat. Mit höchster Willensstärke und natürlich einer ordentlichen Portion Sturheit ausgestattet, bleibt die arme Verletzte bis zum Ende der Hütte bei uns. Gejammere gibt es keines, sie humpelt trotzig ihrer Wege und keiner traut sich mehr Einwände zu äußern. Da sie sich jedem Schmerz durch pure Willenskraft verweigert, vermuten wir schließlich nichts Schlimmeres als eine Bänderzerrung. Wie sich zwei Tage später, nach unserer Rückkehr nach Wien, herausstellen wird, hat sie sich ihren Knöchel gebrochen. Wenn der Sprung von dem drei-Meter Baum kein Irrsinn war, so ist es diese unglaubliche Standhaftigkeit ohne Zweifel. Nie hat man von einem Mädchen gehört, das härter im Nehmen war.
Der Abend dieses Tages vergeht entsprechend ruhig mit Hauptaugenmerk auf das Kochgeschehen und gelegentliche Unterbrechungen durch Spiele. Inzwischen sind wir so an das Hüttenleben gewöhnt, dass eine Rückkehr in die Zivilisation unmöglich scheint. Das Tragen von gesellschaftlich tauglicher Kleidung ist eine dunkle Bedrohung, die allzu schnell näher rückt. Unser verletztes Reh macht sich indes daran, das Hüttenbuch, eine Sammlung von Einträgen aller Hüttenbesucher, für uns zu gestalten. Der Abend vergeht schnell, und der nächste Morgen bringt noch mehr Schnee und mit dem Schnee auch Faulheit. Der letzte Tag wird also zum größten Teil auf dem Matratzenlager verbracht, wo diejenigen, die nicht mit Kuscheln beschäftigt sind, erneut in hitzige Streitgespräche verfallen. Unterdessen werden am Kachelofen zum dritten Mal in Folge Käsespätzle vorbereitet. Auch wenn uns allen schon vor dem Haufen fettiger Teigwaren graust, ist die Unterbrechung des Gelages im Oberstock eindeutig willkommen. Es ist mittlerweile eine Notwendigkeit, die Streithänse unter uns durch Unterbrechungen wie Spiele oder Essen aus ihrer Ernsthaftigkeit herauszulösen.
Nirgendwo kommen so unerwartet trübsinnige Gespräche aus dem Nichts wie in der Isoliertheit einer solchen Berghütte, und erfahrungsgemäß steigert sich das Streitpotential mit jedem vergangenen Tag, bis es sich am letzten Abend in einem Feuerwerk der Anschuldigungen und Liebesbekundungen auflöst. Die sogenannte „Elefantenrunde“ steht bevor. Seit einigen Jahren wird zum Wohle unserer psychischen Gesundheit einmal jährlich auf der Hütte ein therapeutisches Gruppengespräch geführt. Jeder Hüttenbewohner ist zur Teilnahme daran verpflichtet. Wenn alle Lichter gelöscht sind und alle Zähne geputzt, legt man sich in das Matratzenlager. Nun werden einzelne Personen besprochen. Jeder ist reihum einmal Zentrum der Runde. Jeder Teilnehmer muss nun der zentralen Person eine positive und eine negative Feststellung mitteilen; das kann sowohl eine allgemeine Eigenschaft dieser/ eine Kritik an dieser Person sein als auch eine positive oder negative Veränderung im Laufe des vergangenen Jahres. Während die Kritiken abgegeben werden, darf der Angesprochene nur zuhören; abschließend gibt er ein Statement zu allen besprochenen Punkten ab. Währen die negativen Kritiken oft zu stillen Tränen führen, die selbstverständlich in der Finsternis des Raumes ungesehen bleiben, wirken die positiven Einwürfe als lindernde Medizin. Da wirklich alles geäußert werden darf, möchte man meinen, dass auch hier Freundschaften ihr Ende finden; mitnichten! Bis dato ist noch jeder gestärkt aus dieser Zusammenkunft hervorgetreten. Es hat sich auch gezeigt, dass niemandem zu viel Honig ums Maul geschmiert wird; wenn eine Kritik zu positiv ausfällt, werden die nächsten üblicherweise umso schärfer. Diese Tradition ist allen Gruppen, die diese Hütte besuchen, absolut anzuraten. Es mag eine sehr zeitaufwändige Prozedur sein, diese ist jedoch eine ideale Beschäftigung für den letzten Hüttenabend, der ansonsten ohnehin nur in tiefer Trauer ob des Abschieds zugebracht würde. Bevor wir uns also zu dieser zeitintensiven Tätigkeit niederlassen, werden noch schnell die Sieger des Kochwettbewerbes ausgezählt. Im Gesamtwettbewerb liegt mein Team vorne und schlägt sogar das vielgerühmte vegane Curry des zweiten Hüttenmittags. Der Preis sind Ruhm und Ehre und das Gefühl einer kulinarischen Überlegenheit inmitten einer Horde von Käsespätzle-Fanatikern.
Nachdem im Zuge der Elefantenrunde die halbe Nacht gesprochen worden ist, überfällt uns alle die Müdigkeit wie ein Wegelagerer und der eine oder andere Magen krampft sich zusammen bei dem Gedanken an die große Putzaktion um acht Uhr früh des nächsten Morgens. Dieser bricht denn auch nach gefühlten wenigen Minuten an. Man schält sich unglücklich aus dem herrlich warmen Schlafsack und schlüpft das erste mal seit Tagen in ordentliche Kleidung, und die Aufräumbrigade macht sich ans Werk. Zuerst gilt es für jeden, seine über die ganze Hütte verteilten Habseligkeiten zusammenzuklauben, was sich als schwieriges Unterfangen erweist. Danach muss eine ganze Reihe von Aufräumarbeiten getan werden, während die heißgeliebte Hitze des Kachelofens viel zu rasch verglüht. Die Matratzen hochlagern, unter den Betten putzen, die Tische wischen, die Müllsäcke einsammeln und weiter füllen, den Kachelofen von der Asche befreien, die restlichen Nahrungsmittel ordnen, das übrige Geschirr spülen, den Boden kehren, alle Dinge an ihren ursprünglichen Platz räumen, die Sessel hochstellen, die Fensterläden schließen. Alle packen an und die Aufgaben sind rasch erledigt. Mit schweren Herzen kehren wir der Hütte unsere schwer bepackten rücken und beginnen den Abstieg. Für manche die das Glück haben mit Rodel unterwegs zu sein ist es eher ein Abrutsch. Diejenigen die schneller unten angekommen sind und warten müssen, lassen sich die Gelegenheit zu einer letzten Schneeballschlacht keinesfalls nehmen. So stapfen wir, schon mehr oder weniger eingeschneit, den letzten Kilometer quer durch ein Schneefeld zu den Autos. Man könnte als Unwissender nun meinen, dass der letzte Abschied bereits an diesem Ort vonstatten geht. Allerdings gibt es noch eine weitere Hüttentradition für uns; diese ist ausgesprochen ungesund und steht in krassem Gegensatz zum reduzierten Hüttenleben. Gerade das macht sie so beliebt! Jedes Jahr wird nach Abschluss der Hütte ein McDonald’s-Besuch in die Heimfahrt integriert; das stärkt die Moral nach einem solch tragischen Abschied und macht die Rückkehr in eine künstliche Konsumwelt leichter. Wie jedes Jahr sind wir alle erschöpft und glücklich und haben kaum Verletzungen zu beklagen; so hat es zu diesem Zeitpunkt zumindest noch den Anschein.
Die Hütte ist ein Ort, an den jeder gerne zurückkehrt. Ein Ort der Freiheit und der Einfachheit, an dem jeder sich zuhause fühlen darf. Nie kommt Langeweile auf, denn obwohl sich die Umstände dieses Urlaubes nicht ändern, so ändern sich doch die Menschen. Die wunderschöne Lage der Hütte ist ein Faktor, der unbewusst und doch entscheidend für den Genuss ist. Ich bin sicher, dass nie jemand bereut hat, Zeit in diesem Häuschen verbracht zu haben. Sicherlich sind an diesem Fleckchen Erde große Freundschaften entstanden; nichts schweißt Menschen mehr zusammen als gemeinsame Verpflichtungen und das Teilen eines Plumpsklos. Ich hoffe jetzt schon auf einen weiteren Hüttenbesuch. Wenn nicht im nächsten Jahr, so im Jahr darauf. Oder in zehn Jahren. Denn in einem Punkt bin ich sicher: Diese Hütte wird noch standhaft auf Gäste warten, wenn wir schon aus dem Altersheim anreisen müssten.
- von Annika Jensen